Wie weiter am Berg? Entscheidungen in kniffligen Situationen.

Wie die untenstehende Geschichte der Südtiroler Schafe zeigt, können Entscheidungsfindungsprozesse manchmal sehr langwierig sein. Am Berg haben wir dafür keine Zeit. Entscheide müssen rasch gefällt werden und häufig gibt es kein zurück mehr. Entscheide am Berg sind absolut. Entweder fahre ich durch diesen Pulverschneehang oder ich lasse es sein. Entweder klettere ich auf dem Gipfelgrat trotz heranrückendem Gewitter weiter oder ich kehre um. Zum Glück gibt es einige Tricks und Kniffs, Entscheide greifbar und nachvollziehbar zu machen.

Die Entscheidung der Schafe

Es gibt viele Möglichkeiten von politischer Weiterbildung, eine davon ist die Schafwanderung von Südtirol zu den Almen im Nordtiroler Ötztal, jährlich Mitte Juni, schon seit Jahrhunderten, da ziehen also viele tausend Schafe aus dem Vinschgau, früher auch aus dem Ultental, über die eisbedeckten Jöcher der Ötztaler Alpen, um die alten Rechte wahrzunehmen, uralte Weiderechte der Südtiroler Bauern, die auch die neuen Grenzziehungen nicht auszulöschen vermochte, sie ziehen also mit ihren Schafen über den Alpenhauptkamm, wie einst die ersten Siedler, die von Süden her das oberste Ötztal bevölkert haben, noch heute gibt es die gleichen Familiennamen, es wurde hin- und her geheiratet, es wurden Holztruhen über die Gletscher geschleppt mit dem Heiratsgut der Braut, ein schönes Bild, sich vorzustellen, dass eine mit Sonnenrädern und Fruchtbarkeitszeichen beschnitzte Truhe mit gotischen Bögen über den Firn geschoben wird, eine Firngleittruhe, darin gestickte Brauttücher, die Braut daneben hergehend, mit dem Bündel, in Tracht natürlich, und sie wird so schnell nicht wieder zurückkehren, denn schon im nächsten Jahr wird sie ein Kind unter dem Herzen tragen und dann noch viele und sie wird nicht mehr so leicht übers Joch kommen, vielleicht einmal noch in späteren Jahren, ein letztes Mal, man war also verwandt, man hat sich besucht, auch kirchliche Bande verknüpfen die Hochtäler mit Südtirol, die Toten wurden sogar von Vent über zwei Jöcher ins ferne Göflan getragen, und wenn im Winter gestorben wurde, mussten die Leichen auf dem Dachboden gespeichert werden und konnten erst in der wärmeren Jahreszeit dem Friedhof der Mutterkirche übergeben werden, so will es die Sage, sicher aber ist, dass die Pfarrbindung erst im sechzehnten Jahrhundert aufgelöst wurde, und zwar im Jahr 1582, aber die Almrechte, die gelten heute noch, da können Staaten Grenzen machen, welche sie wollen, das hält zusammen, das ist so fix, dass nicht einmal der Musolini daran gerüttelt hat, er hatte vielleicht besonders viel Verständnis für Schafe, oder er wollte von hier aus das Eroberungswerk fortsetzen, jedenfalls ist der jährliche Zug der Schafe ein wichtiges Ereignis, schon längst auch für die Presse, für Filmemacher und Fotografen, die Schafe und Hirten, auch ihr Hunde, sind Fernsehstars geworden und Fotomodelle, aber das nur so nebenbei, denn in Wirklichkeit ist das eine harte Arbeit, und wenn man mitgeht, kommt man ausser Atem, wird ruhig und zurückhaltend, da vergeht einem das Reden, sogar die Politik, aber mit Politik hat sie Sache doch zu tun, mit politischer Weiterbildung, dabei meine ich weniger die alte Landeinheit, die hier beschworen wird, ich meine den politischen Unterricht durch die Schafe, den ich da genossen habe, so dass ich nun endlich mehr von Politik verstehe, aber ich meine auch nicht den guten Hirten, den ich da gesehen habe mit dem Lämmlein auf den Schultern, wie unser Herr Jesus, auch das habe ich gesehen, das war nicht Schau, das vor allem anstrengend, denn das auf dem Weg Neugeborene musst mit, man konnte nicht haltmachen, morgen musste ein weiterer, noch höherer Pass überstiegen werden, die Perlenschnur der weichen Wollknäuel mit den roten, blauen und grünen Farbflecken, an denen der Eigentümer seinen Besitz wiedererkennen würde, wenn im September der Zug zurückkehren wird, also der anfangs noch ausgrasende, kugelige Haufen streckt sich allmählich, die Müden bleiben etwas hinten, die Hunde, wollige Spitzschäferhunde, treiben die Ausreisser zurück, sie folgen den unsichtbaren Winken der Hirten, es braucht nicht befohlen und gepfiffen zu werden, das Gelände wird steingier, schon längst ist die Waldgrenze überschritten, aus der Mulde des Kortscher Sees ziehen Nebelwolken zum Joch, wo wir hinwollen, plötzlich wird es ganz dunkel und alles verlöscht, wie im Theater, dann öffnet sich wieder der Vorhang, grell und stechend die Sonne, ich muss die Augen schliessen, dann ist es wieder dunkel und kaltfeucht, die Schafe werden zusehends verzagter, es gibt nur mehr Steine und immer häufiger drängen sich Schneefelder von den Flanken zum Talboden, immer schmaler wird der Weg, bis er sich im Geröll verliert, nur die rotweissen Markierungszeichen des Alpenvereins deuten die Richtung an, hinauf, irgendwo hinaus in den Nebel, der zärtlich um schwarze Felsen streicht, lautlos, es wird immer weisser, das Steinband, über das die Schafe klettern, das sie völlig ausfüllen mit ihren weissgrauen Wollleibern, auch schwarze Schafe gibt es und braune, das Steinband endet plötzlich, der Zug stoppt, ein Schneefeld müsste überschritten werden, um wieder auf festen Grund zu gelangen, aber der Leithammel will nicht, dabei ist er gar kein Hammel, diese Rolle übernimmt hier ein erfahrenes Mutterschaf, eine Görr, sie hat schon mehrmals diesen Weg gemacht, sie wird geachtet und nicht geschlachtet, aber, so frage ich, wozu taugen eigentlich die Widder, warum gibt es keine männlichen Führer, aber es ist eben so, die Görren haben vielleicht mehr Geduld, sie wissen von den trächtigen Schafen, die bald lämmern werden, vielleicht noch auf dem Weg, sie nehmen Rücksicht, und tatsächlich stehen sie nun still, etwa dreihundert Schafe, sie sind schon seit sieben Stunden unterwegs, stehen still und scheuen sich, das lächerliche Schneefeld zu überqueren, etwa drei Meter, aber die Schafe sind eben keine Wintersportler, sie blöken jämmerlich und irgendwie anders, ich weiss nicht, ist es der Sonnenstich oder die dünne Luft, plötzlich verstehe ich ihre Sprache, höre sie reden, sie sagen: nein, da gehen wir nicht hinüber, das kann man uns nicht zumuten, das ist unerhört, wir kehren um, zurück ins Schlandrauntal, zurück in den Stall, und jedes Schaf beeilt sich, dasselbe zu sagen, zuzustimmen, mit einem ängstlichen Blick auf die Hunde zwar, aber die Hunde tun so, als sähen sie nichts, auch die Hirten zeigen keine Eile, die Schafe aber besprechen aufgeregt die Lage, wiederholen und wiederholen ihre Einwände gegen die Obrigkeit, die Obrigkeit wartet, der Spitz betrachtet die Landschaft, die Schafe sind noch immer aufgeregt, diese Zumutung, sagen sie, sagen es fünf Minuten lang, zehn Minuten, vielleicht noch länger, dann verändert sich das Geblök, jemand sagt, jemand von den Schafen natürlich, vielleicht ein Unterführer, sagt ganz bedächtig, ja, was sollen wir hier, wir brauchen ja Futter und wir müssen auch an die Menschen denken, gemeint waren wohl eher die Hunde, vielleicht könnte man dieses Schneestück doch überqueren, so schlimm ist das ja auch wieder nicht, sagt ein anders Schaf, ein mutiges, und allmählich verstummen die Jammerer, die Tapferen werden lauter, die Görr überquert das Schneefeld, es folgt ihr Junges, ein zartes Lämmlein, da fassen alle Mut und nun strömt die ganze Herde, erreicht das rettende Steinfeld, und weiter geht der Zug, hinauf zum Joch, aber bis dahin muss noch eine Stunde lang geklettert werden, immer häufiger müssen Schneefelder überquert werden, das wird jetzt sicher schneller gehen, denke ich, die Meinungsbildung wird sich beschleunigen, aber da habe ich mich völlig geirrt, es wiederholt sich das gleiche Schauspiel, der Erkenntnisprozess braucht seine zehn Minuten, die Hirten fügen sich diesem Rhythmus, die Hunde ebenfalls, es ist wie vor politischen Wahlen, die Schafe wollen ihr vertrautes Element, den Fels und Erde nicht verlassen, grosse Beratung, heftiges Aufbegehren, dann allmähliches Einlenken, immer wieder vergehen zehn Minuten, dann kommt der Meinungsquantensprung, dann beginnt das Strömen, und so erreichen wir endlich das Taschljoch, schon sieht man auf die andere Seite, hinunter in den grünen Talgrund, nun rasten auch die Hirten, nun wird gegessen und getrunken, auch gesprochen, zwei Almen besitzen die Südtiroler im Ötztal, andere werden gepachtet, früher trieb man auch Kühe hinüber, aber da hat sich durch den Rückzug der Gletscherzungen eine tiefe Schlucht aufgetan, über die nur eine schwache Brücke führt, seitdem werden nur mehr Schafe hinübergeführt, und der Hirte erklärt mir den Übergang, der uns morgen bevorsteht, und wir schauen hinunter nach Kurzras, wo die Schafe vor dem Grenzüberschreiten noch einmal vom Tierarzt untersucht und gegen Ungeziefer gebadet werden, er spricht von anderen Gruppen, die über das Hochjoch gehen, wir aber werden morgen über das Niederjoch gehen, das allerdings auch über 3000 Meter hoch ist, und er zeigt auf den Bergkamm und spricht von der Rosenwirtin aus Unser Frau, die ist auch von drüben, vom Ötztal, das hat man genau gesehen bei der Hochzeit, da sah man die fremde Tracht, bunte Bänder um den Hut, das hat man bei uns nicht, und die Älteste vom Platzgummer, die hat hinübergeheiratet, sagt der Hirt, und er Bürgermeister von Sölden heisst Santer, so heissen viel in Schnals, aber dann war wieder Aufbruch, das Gespräch zu Ende, der Abstieg würde nun wohl schneller gehen, meine ich, die Schafe meinen das aber gar nicht, sie lieben die Beratungen und Konferenzen, sie interessieren sich nicht so sehr für das frische Gras, sondern für demokratische Beschlüsse, auch dürsten sie nicht nach Wasser, sondern nach Beschlüssen, nichts verstehe ich von Schafen, erkenne ich, ich ertappe mich, an den Fortschritt der Erkenntnis zu glauben oder an Erfahrung, und meine, das müsse allmählich schneller gehen, und dabei vergesse ich Idiot natürlich etwas ganz Wichtiges, ich vergesse oder übersehe den Genuss des Widerstandes, des Neinsagens, den Genuss des Wartens, den Genuss des Wiederkäuens, den Bremsgenuss, und trotzdem, jetzt, da das Gras vom Tal herauf grüsst, denke ich, jetzt müsst der Sprung von Schneefeld zu Schneefeld doch etwas schneller gehen, denke ich, die Schafe denken dies aber keineswegs und nicht die Hirten, die können warten und mit ihnen die Hunde, blöde Schafe, sagt mein Freund Gianni, die Lamas in Südamerika wittern das Gras schon auf der Passhöhe, wir aber nicht, sagen die Schafe, wir lieben langwierige Beschlüsse, auch wenn es sich immer um dasselbe handelt, wir haben auch unseren Stolz, unser Stolz ist es, kein Lama, kein Kamelartiges, sondern eben ein Schaf zu sein.

Quelle: Wielander Hans. Geschichtensammlung Vinschger Impressionen- Ein Lesebuch in Bildern von Bodini Gianni. Tappeiner. Arunda.